Demonstrationen und der Alltagsmensch

Unter den Berichten über die „Occupy-Bewegung“ der letzten Wochenenden, die auch mit zahlreichen Demonstrationen in Deutschland offensichtlich mehr als nur eingefleischte Systemprotestler mobilisieren konnte, kam in mir erneut die Frage auf: Was bringt denn das Demonstrieren? Warum ist es Bestandteil unserer demokratischen Kultur geworden? Denn - so selten dies ist - die ideellen Wünsche dieser Protestbewegung kann ich in diesem Fall ohne Weiteres nachvollziehen. Bleibt nur die Frage: Ist diese Form ein realistischer und effektiver Weg?
Nun, wie nimmt man denn als Durchschnittsmensch Demonstrationen vor der Brille seiner allgemeinen Alltagssorgen wahr? Ab und zu sieht man beim wochenendlichen Einkaufsbummel irgendwelche ehrgeizigen Protestzüge an sich vorbeiziehen. Die ganze Szenerie betrachtet man dann kaum mehr als ein Phänomen des geschäftigen Stadtlebens, das allenfalls unsere Neugierde ein wenig kitzelt, in etwa wie ein Verkehrsunfall, ein Autokorso oder berittene Polizisten. All dies scheint für sich folgenlos für unser Leben. Höchstens hält es ein bisschen den Verkehr auf. Aktivisten in den Fußgängerzonen haben es generell schwierig, beim wuseligen Alltagsbürger wirklich auf den Nerv zu treffen, der ehrliches Interesse in ihnen wecken kann. Ja, es ist fast unmöglich, so etwas zu erwarten. Wenn der dreifache Familienvater in leicht gereiztem Stechschritt zur tickenden Parkuhr geht, wird er kaum die Muße aufbringen, ein UNICEF-Aktionsblatt zu unterzeichenen, auch wenn er, konkret vor die Wahl gestellt, sicher auch für die Durchsetzung der EU-Richtlinien für Kinderarbeit in Osteuropa wäre. Selbst wenn er samstags schlendernd mit Familie, Einkaufstüten, Sonnenbrille, Gelassenheit und eben der vermeintlichen „Muße“ durch die Meilen zieht, auch dann unterschreibt er nicht. Warum? Verflixt noch mal! Ganz einfach: weil dieser politische Gedanke zu abstrakt, zu fern, zu undurchsichtig ist und der Alltagsmensch Bequemlichkeit über alles schätzt.
Sollte die „Occupy-Bewegung“ mit ihrem Anliegen genau diese überwinden können? Das Thema der wackelnden Finanzmärkte, der irrationalen Wirtschaftsmechanismen und der folgenden Sparmaßnahmen beim Volk wurde in den letzten Wochen in so gut wie allen Medien hinlänglich ausgebreitet. Nicht, dass aufgrund des hohen Komplexitätsgrades irgendjemand klare Lösungen oder Ziele formulieren könnte, aber das Problem ist durch alle Gesellschaftsschichten hindurch erkannt. Der Grund sich Demonstrationen anzuschließen, wäre für viele da. Doch lässt sich nicht leicht einsehen, was symbolische Menschenaufmärsche, die Straßen verstopfen, rare Freizeit auffressen und Platzangst hervorrufen, mit ihren mitunter albernen Plakaten zur Lösung dieses Problems beitragen können.
Ich denke, dass die Kraft, die diese gegenwärtige Protestbewegung entfalten kann, von vielen noch zu stark unterschätzt wird. Denn die Kritik setzt genau an Punkten im Gesellschaftssystem an, bei denen selbst den apolitischsten Pragmatikern die Dynamik des Kapitalismus nie ganz geheuer war. Jenseits von ideologischem Geschwätz kommen Konservative, Neoliberale oder Linke darüber ein, dass, wenn Finanzwettgeschäfte von Großinvestoren den Wirtschaftskreislauf ganzer Länder zerstören können, sie entsprechend eingeschränkt werden müssen. Den Kapitalismus abschaffen wollen dabei die Allerwenigsten. Zeigen, wo ein offensichtlicher Makel im System liegt, schon. Dass Demonstrationen symbolischen Protest ausüben, wird oft negativ interpretiert. Dabei ist das Symbol eine der stärksten politischen Waffen. Die Geschichte zeigt nicht selten auf erschreckende Weise, in welchen Bann es Menschen versetzten kann. Weiterhin ist die Demonstration fester Bestandteil der modernen Demokratie-Kultur. Den Eintritt in diese assoziiert die europäische Bevölkerung der ehemaligen Ostblockstaaten bspw. immer noch als Folge von Demonstrationen. Die moderne Demokratie versucht dem Dilemma, dass ein herrschendes System nie ideologiefrei sein kann, irrwitzig auf die Schliche zu kommen, indem sie sich eine Opposition und mögliche Protest-Demonstrationen förmlich wünscht. Demonstrationen sind daher nicht nur geduldet, sondern auch Zeichen dafür, ob eine demokratische Gesellschaft auch wirklich funktioniert. Aber verlieren wir uns nicht in leeren Aktivismus-Floskeln…Das Symbolische am Protest wird bewirken, dass zwar viele Passanten müde wegschauen und mit schlechter Laune aus dem Berufsverkehr kommen, doch zieht es bei so einem medienpräsenten Thema auch schnell die Kameras auf sich. Nachdem diese gerade noch genervten Alltags-Pendler ihren Groll nach dem Abendbrot wortwörtlich hinuntergeschluckt haben, setzten sie sich nicht selten auf die Fernsehcouch. Nicht am Ersten, auch nicht am Zweiten, aber an irgendeinem Abend wird so ein Slogan bei ihnen im Gemüt irgendetwas anregen, dass sie zum ersten Mal die Sache bewusst reflektieren lässt. Sie sagen, das dauert zu lange und kommt zu selten vor? Statistisch dauert es nicht zu lange, wenn wir allein rund 40 Millionen Deutsche mit ähnlichem Tagesablauf einrechnen. Da ist absolute Chaostheorie. Gerade bei gesellschaftlicher Meinungsdynamik kann ein winziger Kiesel schnell die Lawine werden. Das fast unerträgliche politische Hin - und Her der unzähligen Ansichten, mit dem wir in den öffentlichen Medien konfrontiert sind, ist in Wirklichkeit ein brodelnder Topf, der jeden Tag unbewusst ein paar Rädchen im Kopf anders dreht, selbst wenn wir selbst der Meinung sind seit zwanzig Jahren klar für dieselben Prinzipien zu stehen. Bei der Masse an Zuschauern, begreift auch die führende Politik schnell, wann die allgemeine Stimmung kippt. Beider nächsten Wahl möchte schließlich niemand der Buhmann sein. Nicht viele Demonstrationsaktionen haben von vornherein dieses Potential. Die „Occupy-Bewegung“ schon. Diejenigen, die die Dynamik unserer Zeit unterschätzen, sagen, dass im Alltäglichen eben kein Platz fürs Globale sei. Vielmehr ist es so, dass das Alltägliche gar nicht mehr weiß, was in ihm global ist, denn in der Alltagswelt ist der Einfluss „öffentlicher Medien“ schon so allgegenwärtig, dass der Begriff selbst für uns beinahe sinnentleert wirkt.
Das Demonstrieren. Was macht es eigentlich? Es setzt auf den Dominoeffekt der Gedanken. Protest sieht mitunter laut, aggressiv und platt aus, doch seine wirkliche Waffe ist die schleichende Ungewissheit, die sie nach einer gewissen Zeit in den Köpfen seiner Gegner breit macht, im Menschen selbst, dem ewigen Zweifler, und so irgendwann ihr Gewissen zwingt zu fragen: „Und wenn es doch anders wäre…?“

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